Es ist Sonntagabend. Ich habe jede Menge Recherchearbeit hinter mir und möchte zunächst grundsätzliche Eckpunkte klären – was verstehen wir unter Erziehung? Welche Erziehungsstile gibt es? Ich komme gut voran, doch irgendwann ruft mein Mann zum Abendessen. Nachdem wir die Küche aufgeräumt haben und unser Sohn im Bett ist, blättere ich kurz die Süddeutsche Zeitung durch. Ich bleibe hängen bei: „ESSEN – was Kinder am Küchentisch erleben, prägt ihre Essgewohnten für das ganze Leben. Das ist Chance und Bürde zugleich.“ Ich lese den Text. Und ich werde wütend. Richtig, richtig wütend. Und ich beschließe, meinen sorgsam recherchierten Einstieg völlig umzuschmeißen und ganz anders anzufangen. Nämlich so:
Alles oder nichts – nein, danke
Vielleicht bin ja nur ich besonders anfällig, sofort ein schlechtes Gewissen zu haben. Der erwähnte Artikel (SZ am Wochenende, Nr. 267, 19./20. November 2022) beginnt etwa so: Zahlreiche Studien haben festgestellt, dass Kinder, die mit ihren Eltern regelmäßig gemeinsame Mahlzeiten einnehmen, weniger Essstörungen haben, soziale kompetenter sind und später weniger zu Drogenkonsum neigen. Ach, herrje! „Studien“, das klingt immer so wissenschaftlich und in Stein gemeißelt. Dabei ist es weder einfach, Studien wasserdicht und sauber durchzuführen, noch kann man als Mensch, der mit Zahlen nicht sonderlich viel am Hut hat, die Ergebnisse immer realistisch einschätzen. Aber es kommt noch schlimmer in diesem Artikel. Im Grunde geht es um alles oder nichts, wird uns weisgemacht: „Gute Essgewohnheiten sind […] Rüstzeug für ein gelungenes Leben“, schmiert uns Ernährungspsychologe Klotter aufs Brot. Danke für nichts. Mag ja alles irgendwie stimmen, aber es hilft auch nicht wirklich, oder?