Der kleine Evren hatte am Anfang auch seine Probleme. Esra bekam ihn kaum aus dem Haus. Sie erzählte ihm, sie würden im Supermarkt keine Süßigkeiten an Eltern verkaufen, die keine Kinder dabei hätten, und motivierte ihn so, ihn zu begleiten. Doch als er einmal im Kindergarten angekommen war und die ersten Freunde gefunden hatte, lernte der Kleine die Sprache schnell und fühlte sich zu Hause. Esra hatte am Anfang Schwierigkeiten mit der Art, wie Deutsche auf sie zugingen, fühlte sich allein und ausgegrenzt. Heute hat sie gelernt, dass das wenig mit ihr zu tun hatte, sondern einfach zu der Mentalität der Deutschen gehört, Neuem zuerst kritisch gegenüber zu stehen. „Und heute bin ich selbst so und genieße die Freiheit, die sich daraus ergibt: Wenn ich jemand neuem begegne, ist das nicht direkt mein bester Freund, sondern ich schaue mir die- oder denjenigen erst einmal an. Wenn ich die Person kennen- und schätzenlerne, dann wächst sie mir ans Herz und gehört zu meinem Leben. Da bin ich ein bisschen deutsch geworden und genieße es, mir diese Zeit am Anfang nehmen zu können.“
Die „typische Türkin“
Für Esra, die in der Türkei jemand war, war es eine sehr harte Erfahrung in Deutschland plötzlich niemand zu sein, so sagt sie. Einmal sagte eine Mutter beim Abholen in der Kita zu ihr, sie sei ja gar nicht so eine typische Türkin. Als Esra sie daraufhin fragte, was denn wohl so eine typische Türkin sei, meinte sie: „Naja, so mit Kopftuch, langem Mantel und Plastiktüte.“ Das brachte Esra zum Nachdenken. Denn obwohl sie ein modernes Erscheinungsbild hat und nicht fünfmal am Tag betet, ist Esra ihr muslimischer Glauben doch wichtig. Dass es aber Stereotype gibt, die sie als Türkin auf ein bestimmtes Bild reduzieren, hat ihrer Meinung nach aber mehr mit ihrem Gegenüber zu tun als mit ihr. Nach ihrer Erfahrung haben Leute, die schon in der Welt etwas herumgekommen sind, meistens eine deutlich weitere Sicht und sind weniger von Vorurteilen geprägt. „Außerdem gibt es die überall auf der Welt. Vorurteile sind keine deutsche Erfindung. Das können die Menschen in der Türkei auch“, sagt Esra mit einem Lächeln.
Höhen und Tiefen
Vor ein paar Jahren machte sich Esra selbstständig und fing an, Schmuck zu entwerfen. Diesen vertreibt sie Online, auf Märkten und in einem Laden in Holland. Während der letzten zwei Coronajahre, wurde es immer schwerer, Kunden für die exklusiven Schmuckstücke zu erreichen. Hinzu kam, dass Esra an Krebs erkrankte und sehr mit den körperlichen und seelischen Belastungen der Chemotherapie zu kämpfen hatte. Nachdem sie den Krebs besiegen konnte, entschieden sich ihr Mann und sie, neue eigene Wege einzuschlagen. Esra und ihr Sohn blieben zu zweit in der gemeinsamen Wohnung wohnen, von der Evren seine Schule fußläufig erreichen kann. Esra beschreibt ihren Sohn als vollständig integriert und versucht ihm zu vermitteln, dass es ihm frei steht der Mensch zu sein, der er sein möchte, unabhängig davon, was andere wollen. Er spielt Tischtennis und Tennis, nimmt Klavierunterricht und an einem Programmierkurs teil.
Neue Perspektiven
Esra musste sich durch Corona und die Scheidung beruflich noch einmal neu orientieren und hat wieder angefangen als Architektin zu arbeiten. „Ich hatte das Glück, dass gerade viele Architekten gesucht werden und ich so anfangen konnte, in dem Bereich zu arbeiten, auch wenn meine Abschlüsse aus der Türkei noch nicht final anerkannt wurden.“ Neben der Arbeit nimmt Esra nun an vielen Fortbildungen teil und hofft, nach der Probezeit übernommen zu werden. Ihre Leidenschaft bleibt aber weiter ihr Schmuckdesign-Business, weshalb sie ihre Firma Dilemmart auch weiter betreut. Esra und Evren blicken optimistisch in ihre gemeinsame Zukunft. Sie genießen es, in der unmittelbaren Umgebung alles zu haben, was sie brauchen. Gerne verbringen sie mal zusammen einen Nachmittag auf der Benderstraße, wo sie in der Buchhandlung schmökern und sich im Anschluss eine Pizza oder ein Eis gönnen.