Wir haben Glück – im Gegensatz zu den Elterngenerationen vor uns brauchen wir keine Angst zu haben, uns von unseren Kindern zu sehr auf der Nase herumtanzen zu lassen. Der Blick auf Kinder hat sich inzwischen grundsätzlich gewandelt – weg von den „Tyrannen“ hin zur Idee von im Grunde kooperationsfreudigen kleinen Wesen, die aber (noch) nicht immer in der Lage sind, mit uns so zu kommunizieren, dass wir sie verstehen.
Nicht trotzig, sondern hilflos
Aus diesem Grund ersetzen viele Ratgeber den Begriff „Trotz“ inzwischen durch „Wut“. Wenn Kinder sich verweigern, tun sie dies nicht aus Trotz, sondern weil sie von ihren eigenen Gefühlen überrollt werden. Dabei sehen sie schlicht keinen anderen Weg, uns das mitzuteilen, als eben die allseits bekannte Wüterei. Allein diese Erkenntnis kann viele Situationen entschärfen – wer sich überlegt, was hinter dem aktuellen Wutanfall stecken könnte, kommt mit ein bisschen Übung auf überraschende Lösungen und reagiert von vornherein weniger genervt.
Was im Kopf von Kindern vorgeht
So, wie ein Kind krabbeln, laufen und sprechen lernt, lernt es auch erst mit den Jahren, seine Instinkte und Gefühle zu kontrollieren. Das hängt mit dem Aufbau des menschlichen Gehirns zusammen. Sehr vereinfacht gesagt hat unser Gehirn zwei Bereiche: eine Abteilung für Emotionen (limbisches System) und für Überlegungen (Neokortex). Das limbische System ist unter anderem dafür verantwortlich, instinktiv auf Gefahren zu reagieren. Analytische Überlegungen übernimmt der Neokortex, und er braucht dafür immer einen Hauch länger. Er hilft uns, bewusste Entscheidungen zu treffen und auch, unsere Impulse zu kontrollieren. Der dafür zuständige Bereich heißt präfrontaler Kortex, liegt im Stirnbereich und fährt erst im Lauf der Jahre hoch. Bei Stress (im Sinn von Frust, Hunger, enttäuschten Erwartungen, Traurigkeit, Müdigkeit) übernimmt das emotionale limbische System die Zügel – was alle bestätigen können, die schon mal versucht haben, einen Zwerg im Wut-Tunnel mit rationalen Argumenten zur erreichen.
Authentisch reagieren ...
Kinder brauchen also in ihrem Gewüte Bezugspersonen, die ihre Bedürfnisse dahinter sehen und darauf authentisch reagieren. Sie sind darauf angewiesen, dass wir ihnen helfen, ihre Reaktionen zu regulieren und ihnen spiegeln, was gerade in ihnen vorgeht. Es ist nicht hilfreich, wenn wir uns dabei von außen betrachten und vor allem wollen, dass wir währenddessen ein gutes Bild abgeben für andere. Kinder lernen von uns, welche Bandbreite an Gefühlen – positiven und negativen – es gibt und wie man damit umgeht. Eine genervte Mutter, die mit bemüht freundlicher Stimme spricht und gleichzeitig sehr angespannt ist, sendet ihrem Kind unterschiedlichste Signale, die es verwirren. Also: authentisch bleiben, dem Kind zeigen, dass man sein Bedürfnis verstanden hat. Auch wenn einem dabei die gesamte Kassenschlange zuschaut.
… und einen Blick zurück werfen
Ebenso verwirrend und sogar beängstigend ist es für Kinder, wenn Eltern in solchen Momenten sehr heftig reagieren – das passiert gar nicht so selten. Weil wir uns hilflos fühlen, weil es uns peinlich ist, aber auch, weil plötzlich Programme aufgerufen werden, die uns in unsere eigene Kindheit zurückkatapultieren. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass unsere Eltern oder Großeltern und andere Betreuungspersonen – bei allem guten Willen – uns mitunter zumindest missverstanden haben, und dass wir uns als Kinder deshalb in Situationen wiederfanden, die uns zutiefst traurig, wütend, beschämt zurückgelassen haben. Solche Gefühle können in Stresssituationen mit unseren Kindern wieder aufploppen. Dann wissen wir kaum, wie uns geschieht, wenn die Wut unseres Augensterns uns plötzlich selbst in rasende Wut versetzt. Was dabei helfen kann: versuchen, sich möglichst ergebnisoffen in die eigene Kindheit zurückzuversetzen. Situationen, die einem dann in den Sinn kommen, können einen Hinweis darauf geben, was uns gerade so triggert. Und dann? Dem Kind in dir mit genau so viel Empathie und Liebe begegnen wie deinem eigenen Kind. Es wird euch beiden danach besser gehen.