An dieser Stelle habe ich schon mehrfach erwähnt, dass Erziehung durch die Normen, die Glaubenssätze, die Gegebenheiten einer Gemeinschaft geprägt wird. Was hierzulande wünschenswertes Verhalten ist, lehnen andere Kulturen kategorisch ab – weil es nicht ins System passt. So reagieren Eltern hierzulande deutlich öfter auf ihr lachendes, fröhlich strampelndes Baby, während Kisii-Eltern in Westkenia ein solches Verhalten eher ignorieren: Im Gegensatz zu deutschen Eltern legen sie nämlich wenig Wert auf extrovertierte Kinder, fördern also entsprechendes Verhalten nicht. So funktioniert Erziehung überall auf der Welt: Wir zeigen unseren Kindern auf unterschiedlichste Weise, was wir gut finden, und wir machen auch klar, was uns nicht so in den Kram passt.
Theorie und Praxis
So zumindest die Theorie. Wir sind ja grundsätzlich durchaus dafür, dass sich unsere Kinder zu selbstständigen, selbstbewussten Menschen entwickeln. Aber es sind leider genau diese kindlichen Versuche, Selbstwirksamkeit zu üben, die unseren Zeitplan und unsere Nerven strapazieren. Deshalb passiert es im täglichen Chaos immer wieder, dass wir solche kindlichen Vorstöße im Keim ersticken, weil jetzt leider gerade wirklich nicht die Zeit dafür ist. Klar, Kinder sollten sich selbst die Schuhe binden können, aber wenn wir am Morgen spät dran sind, machen wir es lieber schnell selbst. Verständlich, aber auf Dauer vermitteln wir unseren Kindern auf diese Weise: Lass mich mal machen. Ich kann es besser.
Was braucht die Welt?
Dabei sind wir uns zumindest in meiner Blase einig: Wir möchten unsere Kinder zu selbstständigen, empathischen, resilienten Wesen erziehen, die den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen sind. Und die wären: Nix ist fix, mal schauen, wie sich das alles entwickelt, so kann es jedenfalls nicht weitergehen. Die Erwachsenen von überüberübermorgen werden meiner Meinung nach vor allem ein gesundes Vertrauen in sich selbst und ein robustes Nervenkostüm brauchen. Sie sollten gelernt haben, um die Ecke zu denken und Rückschläge einzustecken, ohne sich davon entmutigen zu lassen. Und wie kann das gelingen? Genau, indem wir ihnen von klein auf zutrauen, sich ihren ganz eigenen Weg zu suchen. „Lass mich mal machen, ich kann es besser“ ist dabei wenig hilfreich.
Jeder Jeck ist anders
Das wird immer eine Gratwanderung sein. In unserem vollgepackten Familienalltag brauchen wir natürlich eingespielte Strukturen, wir können nicht alles diskutieren und täglich neu verhandeln, aber wir können ein Gespür und ein grundsätzliches Wohlwollen für die Versuche unserer Kinder entwickeln, sich ihrem ureigenen Wesen gemäß zu verhalten. Denn dieses Wesen kann sich grundsätzlich davon unterscheiden, wie wir selbst ticken und was wir toll finden. Wenn unsere Vierjährige etwa alle Spiele blöd findet, die wir ihr für ihren Kindergeburtstag vorschlagen, dann könnten wir ihr auch anbieten, an ihrem besonderen Tag mit der besten Freundin eine Runde auf den Spielplatz oder ins Schwimmbad zu gehen und danach gemütlich Kuchen zu essen. Denn es sollte nicht wichtig sein, welche Art von Geburtstag ich mir für mein Kind wünsche oder wie „man“ angeblich Kindergeburtstage feiert, sondern es sollte ein Tag sein, an dem das Geburtstagskind sich gesehen und geliebt fühlt, wie es ist. (Übrigens ein gutes Motto für jeden Tag.)
Kinder brauchen Grenzen
Wenn von Grenzen für Kinder die Rede ist, ist meist damit gemeint, dass Eltern signalisieren: bis hierhin und nicht weiter. Umgekehrt sollte aber klar sein, dass es – abhängig vom Alter ihrer Kinder – auch für Eltern Bereiche gibt, wo sie sich nicht einmischen sollten, die für sie tabu sind. So würde ich ein schlafendes Baby ungern zur nächsten Mahlzeit wecken. Ich hätte auch ein äußerst schlechtes Gewissen, den Tornister meiner Kinder „durchzusortieren“ – aber natürlich kein Problem damit, sie dazu anzuhalten, endlich all die Brotdosen rauszurücken, die mir in letzter Zeit fehlen. Ich würde mich zurückhalten, über ihre Freund:innen zu urteilen, und mich in Streitigkeiten auch nur einmischen, wenn ich darum gebeten werde oder wenn eine Situation eskaliert.
Kinder brauchen Mitgefühl
Sollte uns jemand mal die Frage stellen, wie unsere erwachsenen Kinder später mit uns umgehen sollen, werden wir uns vermutlich wünschen, dass sie sich tolerant gegenüber unseren Macken erweisen, mit Einfühlungsvermögen Themen angehen, die allen nicht so angenehm sind, und unserem Alt- und vielleicht Komischwerden grundsätzlich mit Empathie begegnen. Zugegeben, dieses Szenario liegt noch in weiter Ferne, aber diese Erwachsenen der Zukunft werden hier und jetzt unter anderem davon geprägt, wie wir mit ihnen umgehen. Empathie und ein gutes Gefühl für sich selbst (und deshalb auch für andere!) können Kinder entwickeln, wenn sie sich von klein auf als kompetent und selbstwirksam erleben. Wenn ihnen zugetraut wird, dass sie wissen, was gut für sie ist. Statt sich also mit dem Spätaufsteherkind jeden Morgen um die wichtigste Mahlzeit des Tages zu zoffen, wird stattdessen ein ordentlicher Pausensnack in den Tornister gepackt.
Woher komme ich …?
Oft ist uns Eltern gar nicht bewusst, warum wir bei bestimmten Themen so empfindlich reagieren. Warum es uns etwa dermaßen gegen den Strich geht, wenn das Kind weder mit guten Worten noch mit bunten Frühstücksflocken dazu zu bringen ist, vor der Schule wenigstens einen kleinen Happs zu essen. Vielleicht wissen wir, dass wir selbst ohne unseren Morgenkaffee unausstehlich sind. Oder wir haben als Kinder gelernt, dass „man“ für einen guten Start nun mal ein Frühstück braucht. Es gibt verschiedene Gründe, warum es uns in bestimmten Bereichen besonders trifft, dass unser Kind ganz andere Bedürfnisse hat als wir. Uns dieser Gründe bewusst zu werden, kann dabei helfen, unserem Kind den nötigen Freiraum zu lassen, um sich auszuprobieren. Und ihm zu vertrauen, dass es oft sehr gut selbst weiß, was es braucht. Kein Frühstück, zum Beispiel.
… und muss ich immer mitgehen?
Wir alle haben aber Themen, bei denen es uns trotz aller Selbstreflexion nicht gelingt, über unseren Schatten zu springen und unseren Kindern Dinge zuzutrauen, die uns selbst so gar nicht geheuer sind. Dann hilft eine uralte Kulturtechnik: wegschauen. So habe ich zum Beispiel schreckliche Höhenangst, und ich konnte nicht ertragen, meine Kinder auf hohen Klettergerüsten herumturnen zu sehen – und meine Definition von „hoch“ beginnt ungefähr auf Hüfthöhe. Dass es nicht klug ist, seine Ängste an seine Kinder weiterzugeben, war mir klar. Dass Klettern geübt sein will, auch. Ausflüge in den Klettergarten übernahm also mein Mann. Ich präzisiere hiermit also: wegschauen und outsourcen. Outsourcen muss ich nicht mehr, meine Kinder klettern inzwischen allein. Wegschauen praktiziere ich immer noch.
Juristisch betrachtet
Zum Schluss noch ein kleiner Ausflug ins Juristische: Kinder profitieren nicht nur davon, dass wir ihnen zutrauen, ihren eigenen Weg zu finden. Es ist sogar ihr gesetzlich verbrieftes Recht. Der Auszug aus den UN-Kinderrechten klingt zunächst nach trockenem Gesetzestext, bekommt beim Nachdenken über Vertrauen und Machenlassen aber eine neue Relevanz für uns: „Jedes Kind hat ein Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung.“ Bitte nicht gleich abschalten nach Leben und Überleben – es geht auch um Entwicklung, also die Möglichkeit, zu jemandem zu werden, den es so noch nie gegeben hat, ein echtes Original. Außerdem: „Kinder haben das Recht, in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, gehört zu werden.“ Klingt anstrengend, führt aber kein Weg daran vorbei. Denn, wie eingangs erwähnt: Unsere Kinder haben noch einiges vor sich und brauchen dafür Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Lassen wir sie also machen. Und lassen wir es, zu viel für sie machen zu wollen. Die machen das schon!