Der Titel eines der meistverkauften Erziehungsratgeber weltweit klingt höchst modern, dabei stammt er aus dem Jahr 1946: Die Kunst, sein Kind zu verstehen (englisch: The Common Sense Book of Baby and Child Care, auch das durchaus griffig formuliert). Der Autor Benjamin Spock (1903–1998) formulierte darin sein für die damalige Zeit revolutionäres Verständnis von Eltern-Kind-Beziehung, indem er auf die Bedeutung der individuellen Bedürfnisse von Kindern hinwies, sich für eine verständnisvolle, liebevolle Herangehensweise starkmachte und Eltern dazu ermutigte, ihrem Instinkt zu vertrauen: Trust yourself, you know more than you think you do. Ein Satz, der in den vergangenen Jahrzehnten noch kein bisschen Staub angesetzt hat. Als vehementer Gegner des Vietnam-Krieges engagierte sich Spock auch politisch und kandidierte zu Beginn der 70er-Jahre als Mitglied der progressiven People’s Party für das Weiße Haus. Er erhielt aber nicht genügend Stimmen, und auch sein Buch bekam immer wieder Gegenwind. So warf man ihm etwa vor, dass seine Ideen Kinder zu kleinen Rebellen mit einem zu großen Selbstbewusstsein machen – kommt uns bekannt vor, oder?
Deutschlands Grenzen
In Deutschland brachte es Jan-Uwe Rogge (*1947) „Kinder brauchen Grenzen“ bisher auf 22 Auflagen. Das Buch aus den 90er-Jahren steht aber keineswegs für eine restriktive Herangehensweise, sondern Rogges Kernbotschaft dreht sich um offene Kommunikation zwischen Kindern und Eltern, um Akzeptanz und Empathie, Selbstreflexion und Authentizität und natürlich nicht zuletzt um die essenzielle Bedeutung einer liebevollen, unterstützenden Haltung seinen Kindern gegenüber. Rogge ist aber auch der Meinung, dass Kinder Struktur und klare Richtlinien brauchen, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Seine Botschaften verpackt er in Fallgeschichten, in denen sich Eltern wiedererkennen können. Ein Vorwurf, den er sich immer wieder gefallen lassen musste, ist: Wer konkrete Tipps und klare pädagogische Handlungsanweisungen sucht, ist bei ihm nicht an der richtigen Adresse. Dafür vermittelt er das beruhigende Gefühl, dass niemand perfekt ist und auch nicht sein muss. „Nehmen Sie sich am Abend ein Glas Wein und prosten Ihren Fehlern zu“, meint er. Funktioniert sicher auch mit Tee, meine ich.
Input aus der Schweiz
Der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo (1943–2020) hat sich Zeit seines Lebens mit gesellschaftlichen Themen auseinandergesetzt und wurde nicht müde, seine Leser:innen dazu zu ermutigen, sich und ihre Kinder als einzigartige Individuen wahrzunehmen und einen gemeinsamen Weg zu finden, der sich für sie stimmig anfühlt. In seinen Zürcher Longitudinalstudien – einer Beobachtungsstudie, die auf lange Jahre angelegt war –, widerlegt er eindrucksvoll die Vorstellung, Kinder würden sich in ähnlichen Zeitfenstern weiterentwickeln. Diese angeblichen Fenster sind nach seinen Beobachtungen breite Korridore – zum Gehenlernen etwa zwischen 10 und 20 Monate breit, für die ersten Worte zwischen 13 und 31 Monate. Seine Bücher „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ sind echte Longseller mit Verkaufszahlen von über einer Million, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Die „Babyjahre“ gibt es auch als App, in der die Inhalte des Buches in leicht verdauliche Einheiten aufgedröselt wurden. Largo war übrigens kein großer Freund der Schule – er hielt nichts davon, Kinder in das enge Korsett der Notenbewertung zu schnüren –, aber er war überzeugt, dass lebenslanges Lernen zu einem gelingenden Leben unbedingt dazugehört. Als Vater von drei Kindern und mit neuer Beziehung hatte er auch zum Thema Scheidung und Patchwork eine fundierte Meinung. In seinem Nachruf schreibt Kollege Renz-Polster über Largo: „Stellt euch beim Lesen einen, ja, ‚väterlichen‘, liebevollen Menschen vor, dem es ernst war. Wirklich ernst. Der sein Leben mit großer Aufrichtigkeit geführt hat. Echt und mit offenem Visier. Auch angesichts seines Todes, um dessen Besuch er wusste.“ Wenn euch das zu deep ist – keine Sorge! Gerade die App ist absolut leicht verdaulich!
Nordlicht-Erleuchtung
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul (1948–2019) war erst Lehrer, dann Sozialarbeiter, bis er schließlich gemeinsam mit Kollegen eine familientherapeutische Praxis eröffnete. Sein Buch „Dein kompetentes Kind“ wurde in 13 Sprachen übersetzt und prägte die Erziehungskultur der Jahrtausendwende. Auch Juul ist ein Freigeist der Erziehungsszene und bewahrte sich seine unkonventionelle Sichtweise, indem er genau und unvoreingenommen beobachtete und sich voller Empathie auf neue Situationen und Fragestellungen einließ. So gibt es von ihm keine Standardtipps. Sein Konzept der „Gleichwürdigkeit“ für alle Familienmitglieder will selbst mit Leben gefüllt sein. Dafür ermutigt er Eltern auch, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und nachzuspüren, was sie vom Leben eigentlich erwarten. Seiner Meinung nach sollten Eltern eine Autorität haben, ohne autoritär zu sein. Juul will Kinder aber davor bewahrt sehen, zu sehr im Mittelpunkt zu stehen und zu viel bestimmen zu müssen. Sein Rat: „Eltern müssen sich so weit wie möglich selber treu sein. Dann sind sie konsequent.“
Und nu? Trust yourself und glaub nicht alles!
Wir sehen: In den 90ern und weit darüber hinaus waren es unkonventionelle, wohlmeinende weiße Männer, teils mit schwierigen eigenen Erfahrungen – Juul hatte einen sehr autoritären, abweisenden Vater und eine klammernde Mutter –, die das Zusammenleben mit Kindern auf eine neue Basis stellen wollten. Inzwischen ist der Ratgeber-Markt explodiert, zumal es für alle mit einem Handy und Zugang zum Internet sowie genügend Sendungsbewusstsein ein Leichtes ist, Botschaften und Einsichten unters Volk zu bringen. Gar nicht so einfach, den Überblick zu bewahren, aber vielleicht auch gar nicht notwendig. Bedien dich an dem, was dir über den Weg läuft, konsumiere all die guten Tipps und Hacks kritisch, und, ganz wichtig: Leg das Handy zwischendurch immer ganz bewusst weg. Klapp auch den Laptop zu, und nimm wahr, was im Moment gerade passiert. Mit dir, mit deinem Kind. Wobei wir wieder am Anfang bei Dr. Spock wären: Trust yourself, you know more than you think you do.