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Wenn ein Kind krank ist

Wir haben mit dem Kinder- und Jugendarzt Dr. Hauke Duckwitz darüber gesprochen, wie Familien mit einem chronisch kranken Kind ihr Familienleben gestalten können.

Kind auf Sofa mit Asthmaspray

Tanja Römmer-Collmann

05.07.2022

Lesezeit 4 Minuten

Libelle: In wie vielen Familien lebt ein chronisch krankes Kind?

Hauke Duckwitz: Laut der „KiGGS“-Studie des RKI zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben 39 Prozent der Kinder ein chronisches Gesundheitsproblem wie zum Beispiel Bronchitis, Allergien oder Neurodermitis. Diese Krankheiten fallen individuell unterschiedlich schwer aus. Wir können davon ausgehen, dass 15 Prozent der Kinder so schwer unter ihrer chronischen Erkrankung leiden, dass wir von einem besonderen Versorgungsbedarf ausgehen müssen.

Wie verändert sich der Alltag dadurch?

Das ist ganz unterschiedlich. Manche Krankheiten treten in Schüben auf, dann ist der Alltag lange ganz normal, aber die Angst und Sorge vor beispielsweise einem möglichen nächsten epileptischen Anfall schweben wie ein Damoklesschwert ständig über der ganzen Familie. Andere Erkrankungen erfordern täglich ihre Zeit, zum Beispiel die Hautpflege bei einem Kind mit Neurodermitis. Zahlreiche Arzt- und Therapietermine, schwere körperliche Aufgaben – ist ein Kind chronisch erkrankt oder hat eine Behinderung, kann viel auf die Familie zukommen.

Wie geht es Familien damit?

Auch das lässt sich nicht pauschal beantworten. Jede Diagnose ist anders und jede Familie reagiert anders darauf. Schränkt die Krankheit des Kindes seine Lebenserwartung ein und/oder auch seine Möglichkeiten im Leben, dann müssen sich Familien damit erstmal auseinander setzen. So etwas haben Eltern ja vorher nicht in ihre Lebensplanung einkalkuliert und sind nun gezwungen, sich damit zu beschäftigen – und zwar als ganze Familie einschließlich der Geschwister. Ziel kann zum Beispiel sein, die Krankheit als Teil der Familie anzunehmen, ohne dass sie das System Familie insgesamt „krank“ macht.

Ein Kind braucht nicht Anerkennung für das Erreichte, sondern dafür, dass es sich bemüht hat.

Remo Largo, 1945 – 2020

Was sind die größten Belastungen?

Zum einen die zeitliche Belastung durch Pflege, Krankenhausaufenthalte, Arzt- und Therapietermine. Dazu kommt die finanzielle Belastung: Vielleicht muss ein Elternteil im Beruf zurückstecken oder die Krankenkasse bewilligt nicht alle medizinischen Kosten oder eine notwendige pflegerische Hilfe. Außerdem sind der Umgang mit Roll- und Therapiestühlen und viele Pflegeaufgaben auch körperlich sehr belastend. Dazu kommen die psychische Belastung und die Belastung der Paarbeziehung zwischen den Eltern.

Was kann Familien in dieser Situation helfen?

Die zeitliche, finanzielle und körperliche Belastungen lassen sich im Idealfall durch eine sehr gute Organisation und diverse Beratungs- und Hilfsangebote halbwegs in den Griff bekommen, zumindest, wenn gerade alles „nach Plan“ läuft. Die psychischen Belastungen für die Familie sollte man ernst nehmen, sich aber nicht völlig in der Thematik verlieren. Ziel ist, dass nicht alles im Leben des erkrankten Kindes unter dem Thema der Krankheit steht. Das ist natürlich unter Umständen eine enorme Herausforderung für die ganze Familie.

Wie ist es mit dem Verhältnis zum Freundeskreis und der Familie?

Häufig ziehen sich Menschen aus dem Umfeld zurück – aus Unsicherheit und Hilflosigkeit oder auch wegen der Dominanz des Themas. Eltern können daher beispielsweise ihre Angehörigen und Freunde einmal grundsätzlich informieren über die Krankheit ihres Kindes und sie dann auf dem Laufenden halten, ohne ständig darüber zu sprechen. Manche schreiben zum Beispiel einen halbjährlichen Rundbrief und haken das Thema damit sozusagen für die Alltagsgespräche ab.

2 Sprechblasen gelb rosa Hintergrund blau

Online-Anlaufstellen

Bundesweite Initiative für Eltern mit chronisch kranken Kinder; Seite mit vielen Infos: Stiftung Familienbande

Seiten zum Thema Geschwister: Geschwisterkinder  Geschwisterkinder-Netzwerk

Selbsthilfegruppen etx. (bundesweit):  Kindernetzwerk  Nakos

Wer kann die Situation der Familien gut verstehen?

Familien in ähnlichen Situationen verstehen einander in der Regel gut. Manche tauschen sich daher gern in beispielsweise Selbsthilfegruppen aus. Hier erfahren sie Verständnis und erhalten Tipps. Gemeinsame Ausflüge oder Wochenenden können sehr guttun. Die Geschwisterkinder erfahren, dass es anderen ähnlich geht. Und das kranke Kind selbst erlebt womöglich durch ein älteres krankes Kind eine Perspektive, wie das Leben weitergehen kann. Mittels der  Sozialen Medien ist es heute ja viel leichter, sich zu finden und zu vernetzen – auch ganz ohne lange Anreise. Hier ist die Digitalisierung eine enorme Bereicherung, auch was Kongresse, Fachvorträge oder Elternschulungen angeht.

Was empfehlen Sie noch?

Auch Kinder haben das Recht auf eine Kur oder Reha-Maßnahme, inklusive der mitreisenden Eltern. Es gibt auch Familien-Rehas. Oft sind aber die dafür nötigen Formalitäten eher abschreckend und kompliziert. Hier sehe ich einen strukturellen Mangel in unserem Gesundheitssystem und würde mir Ansprechpersonen wünschen, die über das Medizinische hinaus helfen als Lots:innen oder Case-Manager:innen für das ganze System, die also den Familien gesamtbildlich zur Seite stehen.

Wie geht es den Geschwisterkindern?

Es besteht immer die Sorge, dass diese zu kurz kommen. Fakt ist, dass die Eltern viel Zeit und Sorge für das kranke Kind aufwenden. Daher ist es wichtig, dass das gesunde Kind ganz klar weiß: Die Eltern lieben mich und sind für mich da. Wichtig sind kleine exklusive Räume auch für das gesunde Kind, in denen es die vollkommene Aufmerksamkeit des Elternteils oder beider Eltern hat – sei es bei seinen Hobbys, einer gemeinsamen Unternehmung oder einem Spiel zu Hause.

Dr. Hauke Duckwitz Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin vor einem Baum

Dr. med. Hauke Duckwitz

Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie und Erster Vorsitzender des Kinderschutzbundes Düsseldorf arbeitet als Oberarzt im Kinderneurologischen Zentrum am Sana-Krankenhaus Gerresheim und betreut viele Familien mit Kindern mit chronischen neurologischen Erkrankungen. Hauke Duckwitz hat selbst drei Söhne im Schulalter zwischen 13 und 19 Jahren.

Wie können Eltern das Geschwisterkind noch unterstützen?

Wichtig ist, dass alle klar haben, wer für was verantwortlich ist – und dass die Schwester oder der Bruder damit nicht überfordert ist. Auch, möglichst gute Laune zu haben, kann als Aufgabe völlig ausreichen. Wenn ein Geschwisterkind sehr angepasst und hilfbereit ist, sollten Eltern gut hinschauen und mal nachfragen: Wie geht es dir eigentlich? Verhält sich das Geschwisterkind bewusst auffällig, kämpft es wahrscheinlich um Aufmerksamkeit. Eltern sollten dann nicht Konformität einfordern, sondern einen offenen Austausch ermöglichen.

Wie entwickeln sich die Geschwisterkinder?

Da gibt es keinen Automatismus. Das Familienleben kann trotz der chronischen Erkrankung eines Kindes sehr harmonisch sein. Oftmals reifen Geschwisterkinder an der Verantwortung und profitieren davon. Wenn Eltern dagegen eine Entwicklung feststellen, die ihnen Sorgen macht, sollten sie sich frühzeitig Beratung holen. Entscheidend ist, dass die Familie offen, aber kindgerecht mit dem Thema umgeht. Eltern dürfen sehr wohl zugeben, dass sie auch mal müde und geschafft sind. Schuldzuweisungen sollten allerdings in jedem Fall unterbleiben.

Wie können Familien mit ständigen Auf und Abs klarkommen?

Wichtig ist, dass sie die Dinge besprechen. Und einen Notfallplan haben. Was machen wir, wenn etwas dazwischenkommt? Wenn das kranke Kind wieder einmal unerwartet ins Krankenhaus muss, weiß der große Bruder im Idealfall, wer ihn dann zum Fußball mitnimmt. Ein Netzwerk für die verschiedenen Eventualitäten ist ganz wichtig. Es muss auch klar sein, dass jede:r mal seinem Ärger, seiner Wut über das Unvorhergesehene Luft machen darf. Auch das Geschwisterkind hat Freiheit auf eigene Emotionen und darf etwas einfordern. Vielleicht können auch alle einander auch beim Neinsagen helfen ...

Das Gespräch führte Tanja Römmer-Collmann.

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